6. Dezember 2016
Die schweizerische Verfassung und die Sprachen
Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, deren aktuelle Version von 1999 stammt, bildet mit ihrem Ziel, «den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes» zu fördern, die Grundlage für die Mehrsprachigkeit. Sie legt vier Grundsätze fest: Gleichstellung der Sprachen, Sprachenfreiheit der Bürgerinnen und Bürger, Sprachenterritorialität und Schutz der Minderheitssprachen. Verschiedene Artikel betreffen die Sprachenpolitik: Es sind dies Artikel 4 «Landessprachen», 18 «Sprachenfreiheit» und vor allem 70 «Sprachen» sowie teilweise Artikel 8 «Rechtsgleichheit», Artikel 31 «Freiheitsentzug», Artikel 62 «Schulwesen» und Artikel 175, der die Zusammensetzung des Bundesrats regelt.
Die Verfassung des Schweizer Bundesstaats von 1848 war eine der ersten ihrer Art in Europa. Sie definierte drei Landessprachen – Deutsch, Französisch und Italienisch – in einer Zeit, in der sich zahlreiche Nationen auf der Grundlage einheitlicher kultureller Identitäten bildeten. Fast ein Jahrhundert später, 1938, kam Rätoromanisch hinzu. Die heutige Verfassung ist also das Ergebnis einer langen Entwicklung und kontinuierlichen Erarbeitung des Status der Landessprachen.
Artikel 4 benennt die schweizer landessprachen. Es sind dies Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Die Grenze zwischen der französischen und deutschen Sprache verläuft vom Nordwesten bei Basel bis nach Italien im Süden. Die Grenze zwischen der italienischen und deutschen Sprache geht dem Gotthardgebirge, dem zentralen Massiv der Schweizer Alpen, entlang. Das Rätoromanisch schliesslich bildet verschiedene Enklaven im Kanton Graubünden. Ungefähr 65 % der Einwohnerinnen und Einwohner sind deutscher Muttersprache (17 Kantone sind ausschliesslich deutschsprachig), 25 % französischer Muttersprache (4 Kantone ausschliesslich französischsprachig), ungefähr 10 % italienischer Muttersprache (1 Kanton ausschliesslich italienischsprachig) und weniger als 1 % rätoromanischer Muttersprache.
Artikel 18 behandelt die sprachenfreheit, die den Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit gewährleistet, ihre Sprache zu wählen.
Artikel 70 enthält mehrere wichtige Elemente: Absatz 1 legt fest, dass der Bund drei gleichberechtigte Amtssprachen hat, nämlich Deutsch, Französisch und Italienisch. Rätoromanisch ist teilweise Amtssprache: Es ist die Sprache der Beziehungen, die der Bund mit Personen rätoromanischer Sprache unterhält. Absatz 2 präzisiert, dass die Kantone selber ihre Amtssprache(n) bestimmen. Absatz 3 bezieht sich auf die Pflicht des Bundes und der Kantone, die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften zu fördern. Die beiden letzten Absätze schliesslich betreffen die finanzielle Unterstützung, die der Bund einerseits den mehrsprachigen Kantonen bei der Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben gewährt, andererseits den Kantonen Graubünden und Tessin für ihre Massnahmen zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache.
Der zweite Absatz von Artikel 70 geht noch weiter: Er verpflichtet die Kantone, auf die angestammten sprachlichen Minderheiten Rücksicht zu nehmen und auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete zu achten. Das ist das so genannte «territorialitätsprinzip», die Grundlage der schweizerischen Mehrsprachigkeit. Dabei geht es darum, den Sprachen ein eigenes Gebiet zu garantieren, im Fall des Rätoromanischen – einer Minderheitssprache – ein besonders wichtiger Aspekt. Dieses zentrale Prinzip, das eine Festigung der Sprachgebiete ermöglicht, kann manchmal im Widerspruch zum Prinzip der Sprachenfreiheit (Artikel 18) stehen, das jeder Person, unabhängig ihrer Nationalität, das Recht garantiert, in den Beziehungen zu anderen ihre eigene Sprache zu gebrauchen, namentlich in den beruflichen und privaten Beziehungen.
Verschiedene weitere Aspekte der Verfassung sind ebenfalls von der Sprachenfrage betroffen. Artikel 8, «Rechtsgleichheit», Absatz 2 betont, dass niemand diskriminiert werden darf, namentlich nicht wegen der Sprache. Artikel 31, «Freiheitsentzug», Absatz 2, bei dem es um die rechtlichen Verfahren geht, legt fest, dass jede Person, der die Freiheit entzogen wird, Anspruch darauf hat, unverzüglich und in einer ihr verständlichen Sprache informiert zu werden. Artikel 62, «Schulwesen», Absatz 4, nimmt die Sprachenfrage wieder auf und präzisiert, dass bei erfolglosen Koordinationsbemühungen zur Harmonisierung im Schulwesen (und damit im Fremdsprachenunterricht) der Bund die notwendigen Vorschriften erlässt. Absatz 4 von Artikel 175 schliesslich betont, dass die Landesgegenden und Sprachregionen im Bundesrat angemessen vertreten sein müssen.
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